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Ab hier wirds vertraulich


Aus diesem Grund wechsele ich zum vertrauensvolle "Du". Ich gebe Euch tiefe Einblicke in mein Erleben mit Epilepsie und damit auch in mein Seelenleben. So neutral ich manche Blogs verfassen wollte, so emotional wurden andere Berichte. Ich freue mich über Eure Kommentare, bitte Euch aber auch ganz lieb darum, die "Netiquette" einzuhalten.


Ganz lieben Dank, Eure Anja

 

von account 21 Okt., 2022
Für uns Epilepsiepatienten sind viele Dinge Normalität die für andere Menschen teils undenkbar sind. Uns fehlen häufig Dinge, die wir nicht tun dürfen, sollten oder können, wir hadern auch manchmal damit oder sind traurig, aber größtenteils haben wir uns damit arrangiert und unsere Wege gefunden. Was aber nicht heißt dass ein einmal eingeschlagener Weg oder ein eingefahrenes Arrangement unveränderbar sein muss. Mir wurde erst kürzlich wieder schmerzlich bewusst, welch enormer Unterschied eine einzige Sache in unserem Leben machen kann. Einen Unterschied, den ich nach 20 Jahren schlicht vergessen hatte. Knapp zwei Monate ist es her, da bekam mein Vater eine TIA und ein darauffolgendes Fahrverbot. Dieselbe Diagnose wie ich vor knapp einem Jahr. Als ich daraufhin ein Fahrverbot ausgesprochen bekam, konnte ich nur müde lächeln – dank meiner Anfälle kenne ich es schließlich nicht mehr anders. Als mein Vater dieses Verbot ausgesprochen bekam, brach dagegen erst einmal eine Welt zusammen. Verständlich. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich war zutiefst verwundert über diese Reaktion. In meinen Augen haben meine Eltern nicht nur an meinem Beispiel gesehen dass eine neurologische Erkrankung diese Maßnahme häufig nach sich zieht. Mein Vater ist auch schon 81 Jahre alt und man muss in diesem Alter einfach damit rechnen dass man physisch irgendwann nicht mehr in der Lage sein könnte Auto zu fahren. Ich, in meiner Situation, hatte in diesem Fall Schwierigkeiten Empathie zu zeigen. Bis zu diesem Alter Auto fahren dürfen – das wäre ein Traum für mich gewesen. 50 Jahre mehr Unabhängigkeit hätte dies für mich bedeutet. Darf man sich da noch beschweren? Natürlich darf man. Wahrscheinlich muss man sich sogar beschweren, um dies zu verarbeiten. Ich wollte es trotzdem nicht hören. So egoistisch mein Gedanke auch war, gab er mir doch einen neuen Impuls. Mir wurde erneut klar, wieviel Last wir meinem Mann aufbürden. Größere Einkäufe, Arztbesuche außerhalb der Reichweite des Nahverkehrs, Tierarztbesuche, meine Vorträge usw. Für all dies spielt mein Mann seit 20 Jahren den Chauffeur. Nun kamen auch noch meine Eltern und teils seine Mutter hinzu. All das, neben dem Beruf und unseren süßen Enkeln zu stemmen, war einfach zu viel. Er war mittlerweile schlicht am Limit. Es musste sich etwas ändern, das war schnell klar. Die Lösung stand mir durch meine Tochter und Freunde schon lange vor den Augen, wirklich realisiert habe ich es nicht. Ein Fahrrad wäre eine Lösung für die meisten dieser Fahrten, aber ich hatte seit meinem schweren Sturz damals nicht nur Epilepsie im Gepäck, sondern auch eine tiefsitzende Angst vor Höhen, Geschwindigkeit und Stürzen. Dass ich auf einem Fahrrad auch Rückenschmerzen bekomme, war die perfekte Ausrede um es nicht einmal zu versuchen. Bis zu dem Tag als meine Tochter mich auf ihr E-Bike setzte und mein Enkel mich erwartungsvoll anstrahlte. Ich spüre meine komplex fokalen Anfälle vor Beginn, kenne meine Auslöser und bin immer in der Lage früh genug zu reagieren. Bei der Abgeschiedenheit ihres Hauses fehlte mir auch diesbezüglich jegliche Ausrede und so wagte ich meine erste todesmutige Fahrt. Zuerst nur einige Meter, dann immer ein wenig mehr und endlich wagte ich meine erste richtige Fahrt bis zum Ort. Meine Tochter lebt in den Bergen, dadurch war die Aussicht so atemberaubend, dass ich meine Angst völlig vergaß. Der Kleine saß hinten im Hänger und juchzte, mein Mann und Tochter begleiteten mich mit ihren Fahrrädern. Und es stimmt – man verlernt nichts. Es war, als hätte ich nie aufgehört Rad zu fahren. Das war der Auslöser für einen Gedanken der in meinem Kopf reifte. Ich musste meine Angst besiegen. Meine Familie hatte mir bereits vier Monate eher einen Ausflug mit einem Lift geschenkt. Zitternd und anschließend weinend, aber auch ein bisschen stolz hatte ich die Fahrt auf den Alpstein gewagt. Daran wollte ich anknüpfen. Zwei Wochen später war ich mit meinen drei Freundinnen in bayrischen Oberaudorf. Zuerst wagte ich mich in einen Sessellift, dann in eine Sommer-Rodelbahn, um anschließend mit dem „Oberaudorfer Flieger“ den Berg zu bewältigen. Mein Trick dabei war: Keine Wartezeiten für größere Herausforderungen. Wenn ich mich entschlossen hatte, musste ich es sofort umsetzen. Nicht nachdenken, keinen Foto herauskramen, nicht stehen bleiben. Und vor allem nicht nach unten sehen. Kurz darauf waren wir wieder in der Schweiz bei unserer Tochter und ich fuhr zum ersten mal alleine die Serpentinen mit dem Fahrrad herunter. Hätte mich tags darauf Corona nicht erwischt, wäre ich täglich gefahren, doch diese langsame Steigerung war mir nicht vergönnt. Keine zwei Wochen später bekam ich die Gelegenheit eine schnelle Steigerung zu erreichen. Mittlerweile hatte ich mir bereits ein E-Bike gekauft, aber gefahren hatte ich es noch nicht. Mir fehlte noch das letzte Quentchen Mut, der zündende Funke um auch innerhalb von Ortschaften zu fahren. Doch der sollte ganz schnell kommen. Auf einer Veranstaltung stand ich mit Sohn, Mann und zwei meiner Enkelchen vor einem Feuerwehrauto mit Drehleiter. Der Feuerwehrmann rief „wenn Ihr noch mitfahren wollt, dann rein in den Korb, ich muss gleich weg. Es war eine Sekundenentscheidung. Nicht nachdenken, nicht zögern, tun! Bevor ich wirklich realisierte was ich dort tat, stand ich mit meinem Sohn im Korb der Drehleiter und hob ab. Diesmal schaute ich herunter – aber erst als der Korb ganz oben war. Ich war entsetzt. 30 Meter seien es gewesen, erzählte mein Mann mir später. Nun ja, da darf man auch mal entsetzt sein. Aber ich war auch glücklich. Nach diesem Erlebnis wusste ich dass ich weitermachen muss, wenn ich diese Angst jemals besiegen will. Oder anders gesagt, wenn ich wieder frei sein will. Vor allem wusste ich dass ich es auch kann. Ich darf meinem Schweinehund keinen Raum lassen, muss meine Chancen sehen und sie nutzen. Dann war es endlich soweit und ich habe diese Chance genutzt. Euphorisch, glücklich, aber anfangs auch nervös. Ich bin mit meinem Fahrrad in den Nachbarort einkaufen gefahren. Lächerlich, wenn man das so liest, ich weiß. Aber für mich war es ein Meilenstein. Ohne Mann und Chauffeur kam ich vollbepackt nach Hause. Mir fällt es schwer zu beschreiben wie dieses Gefühl war. Alleine loszufahren, alleine das Ziel auszusuchen und mittendrin spontan einen anderen Weg zu nehmen, war für sich alleine genommen schon die maximale Freiheit für mich. Dann noch alleine die Einkaufstaschen voll zu packen, um dann auch wieder alleine nach Hause zu fahren. Natürlich liebe ich meinen Mann mehr als ich sagen kann. Ich liebe es auch mit ihm unterwegs zu sein und wir haben selbst beim einkaufen Spaß. Und doch hatte ich vergessen wie es ist so frei zu sein auch mal etwas alleine dort tun zu können, wo ich ohne Auto nicht hinkomme. Nicht weil ich es muss, sondern weil ich es kann! Ich war in diesem Moment frei in meinen Entscheidungen und frei in meinen Aktionen! Und das wichtigste: ich war völlig frei von Angst! Ich habe zwar hier und da natürlich den Anflug eines Gedankens an den Sturz vor 20 Jahren gehabt, der Moment als ich abhob und mich mehrfach überschlug war wieder präsent und auch der anschließende Schmerz schob sich immer wieder kurz in mein Bewusstsein. Aber es löste keine Angst mehr aus. Vorsicht ja, eine besonders aufmerksame Fahrweise auch, aber die große lähmende Angst war bei dieser Fahrt verschwunden. Das verrückteste ist wohl, dass ich nicht eine Sekunde daran dachte einen Anfall zu bekommen. Ich denke auch nicht dass ich das brauche. Meine Anfälle kommen in Entspannungsmomenten oder wenn es mir nicht gut geht und davon war dieser Ausflug in die Freiheit, auf ganz wunderbare und positive Weise, weit entfernt. Ich wünsche Euch, dass auch Ihr Euch ein Stückchen Freiheit (zurück)erobern könnt oder vielleicht schon wiedergefunden habt. In welcher Form auch immer, Hauptsache es macht Euch glücklich. Ich bin auf jeden Fall sehr dankbar dafür und hoffe, dass ich mir das auch immer bewahren kann.
von account 16 Aug., 2021
Darf ich mich trotz Epilepsie tätowieren lassen? Diese Frage stellen sich Menschen mit Epilepsie immer wieder. Und tatsächlich kann man sie auch nicht so ohne weiteres mit Ja oder Nein beantworten. Nicht, weil es prinzipiell anfallsauslösend wäre ein Tattoo stechen zu lassen, denn das ist es nicht, sondern weil nicht alle Tätowierer so frei sind und es möchten. Doch kommen wir zuerst zur anfallsauslösenden Situation. Wie bei allem im Alltagsleben eines Epilepsiepatienten gibt es auch hier die ganz wenigen Patienten, die auf die interessantesten Dinge reagieren können. Ich reagiere beispielsweise auf spezielle hohe Frequenzen, also ungewöhnliche akustische Reize. Andere dagegen reagieren auf häufigere Anfallsauslöser wie Schlafentzug, die Nächsten haben einen bunten Blumenstrauß aus Reizen. Es ist also sehr individuell. Als ich meine Tattoos stechen ließ, hatte ich gerade eine sehr lange anfallsfreie Phase. Zudem habe ich das Glück einer Aura, spüre einen Anfall also vorab und hatte auch noch meine Tochter dabei, denn es sollte in diesem Falle ein Mutter/Tochter Tattoo werden. In diesem Falle? Ja, tatsächlich bin ich keine Ersttäterin. Da saßen wir nun, der Termin war lange ausgemacht und ich hatte vergessen die Tätowiererin über meine Epilepsie aufzuklären. Sie tätowierte gerade meine Tochter, als ich sie fragte ob sie etwas dagegen hätte, wenn ich einen Blog über Epilepsie und Tätowierungen schreiben würde. Leicht erschrocken erzählte sie uns dann von einem Kindheitserlebnis und dass sie Menschen mit Epilepsie aus Sicherheitsgründen eigentlich nicht tätowieren würde. Hoppala, damit hatte ich nicht gerechnet, doch es war natürlich meine eigene Schuld dass ich nun in dieser Situation war – ich hätte vorab fragen können. Glücklicherweise war sie offen und schnell überzeugt dass sie sich in meinem Fall keine Sorgen machen müsste. Und sie war einverstanden mit dem Blog. Trotzdem machte ich mir so meine Gedanken über ihre Worte. Klar, ich war bereits seit fast einem Jahr anfallsfrei. Ich hatte eine Aura und für den Notfall - der nicht eintreten würde, wäre meine Tochter dabei. Aber wie musste es Tätowierern gehen, die vielleicht Nicht-Anfallsfreie Patienten unter der Nadel liegen haben. Die nicht wussten was eine Aura ist. Die nicht zwischen fokalen Anfällen, Absencen und den für ein Tattoo echt übel werden könnenden Grand mal unterscheiden können? Die befürchten müssen, dass die Nadel mit Tinte abrutscht und eine sichtbare unschöne Erinnerung bleibt? Dieser Anfall würde niemals vergessen werden. Nicht nur für den Tätowierer, sondern auch für ihre Klienten. Ich verstand sie gut und ein schlechtes Gewissen schlich sich über meine große Vorfreude über diese tolle Mutter/Tochter Statement. Obwohl wir genau wussten, dass ich noch nie einen Grand mal hatte, konnte sie den Unterschied nicht kennen. Vielleicht interpretierte ich auch wieder einmal zuviel in das Gefühlsleben anderer Menschen hinein, ich machte mir schließlich immer Sorgen um andere. Aber so bin ich eben, das macht mich aus. Meine Grübeleien waren in dem Moment vergessen, als meine Tochter einen Blick auf das halbfertige Tattoo warf und begeistert war. Nun überwog die Freude und alle Sorgen waren vergessen. Ob es weh tut? Es kommt darauf an, wo das Tattoo gestochen wird. Kinder bekommen ist schlimmer, ein Eis essen angenehmer. Wie ich es beim nächsten mal machen würde? Ich war bislang bei vier verschiedenen Tätowierern und das war die erste Tätowiererin, bei der es überhaupt nicht blutete oder zu Wundsekret kam. Schaut Euch nach Jemandem um, der nicht zu tief sticht. Bei Freunden oder im Netz findet man viele Bewertungen. Ich würde, wenn ich es noch einmal zu tun hätte, die Epilepsie direkt ansprechen und ggf. genauer erklären. Eine Begleitung macht auf jeden Fall Sinn, auch für Euch. Falls Ihr blutverdünnende Medikamente nehmt, lasst Euch keine hellen Farben stechen. Eins meiner Tattoos färbte sich durch Einblutungen in ein unschönes rosa. Ich nahm damals ein Antiepileptikum, das blutverdünnend wirkte. Viele Tätowierer lassen vor Beginn ein Blatt zu ihrer und Eurer Sicherheit ausfüllen, gebt alle Informationen wahrheitsgemäß an, es ist zu Eurer eigenen Sicherheit. Falls Ihr nicht anfallsfrei seid, besprecht Euren Wunsch ausführlich mit Eurem Arzt und dem Tätowierer. Erst wenn Beide kein Problem damit haben, wagt den Wunsch zum Tattoo - es gibt in diesem Falle nichts Schlimmeres als ein verkorkstes Tattoo, das Ihr Euch ein Leben lang ansehen müsst. Und falls alles o.k. ist, für Euer "Bild für die Ewigkeit", wünsche ich Euch alles Gute und viel Spaß damit. Eure Anja
von account 16 Aug., 2021
Sonntag Morgen, die Sonne scheint auf das verschlafene Gesicht, die Brötchen liegen schon im Körbchen, der Kaffee duftet und vor einem liegt ein toller Tag mit der Familie. Epilepsie, ja und??? Wen interessiert die schon? Mittags am See kitzelt der warme Wind die Nase und lässt die Haare herrlich wehen, während die Sonne auf dem Wasser glitzert. Herrlich!!! Vor wenigen Jahren noch wäre das nicht möglich gewesen, da war man noch nicht anfallsfrei und gehörte zu den wenigen Epilepsiekranken, die von Flackerlicht Anfälle bekommen, aber jetzt, jetzt hat man durch die Tabletten alles im Griff und kann es auch genießen. Die Welt kann so schön sein. Abends im Bett denkt man noch lange darüber nach wie positiv sich doch alles entwickelt hat im Gegensatz zu früher, als man verzweifelt gegen die Anfälle kämpfte und im Dunkeln tappte. Man schläft dankbar, mit einem Lächeln im Gesicht, ein. Als man montags wieder aufwacht sind die Beine wie Blei, die Augen wollen einfach nicht aufgehen und das Geschrei der Kinder macht einen beinahe wahnsinnig. Dünnhäutig ist man geworden, schwerfällig, antriebsarm, nicht belastbar. Das sind die Tabletten, manchmal schlagen die Nebenwirkungen eben wieder zu. Nicht immer gleichbleibend, je nach Tagesform mal mehr oder mal weniger aber an diesem Tag eben nicht mehr zu ignorieren. Während man sich und seinen Körper quält steigt erneut die unterdrückte Wut auf. Warum??? Warum muss ich so viele Tabletten schlucken, warum muss ich Epilepsie haben, warum bekomme ich keinen Arbeitsplatz, warum bin ich gereizt? Und überhaupt, warum ich??? Gestern noch, als man den Mann im Rollstuhl sah, war man dankbar dass man nur Epilepsie hat. Gestern noch, als man in den Nachrichten die Katastrophenmeldungen gesehen hat, war man dankbar hier zu leben – in relativer Sicherheit. Gestern noch, als man die alten Fotoalben durchsah und Bilder gesehen hat aus Zeiten wo man viele Anfälle hatte, war man dankbar für die Fortschritte der Medizin und die Medikamente. Aber gestern ist nicht heute. Vergessen ist der Weitblick, die Dankbarkeit und das tolle Lebensgefühl von gestern. Heute ist nicht gestern, heute sind die alten Schatten wieder da. Die Schatten von denen wir uns allzu oft mitreißen lassen. Und wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, wissen wir ja auch dass wir vor den Anfällen nie sicher sind. Genau wie kein anderer Mensch, denn Krampfanfälle kann jeder Mensch bekommen. Der Unterschied ist nur, wir wissen was es bedeutet Anfälle zu haben. Wir kennen die Macht, die uns überwältigt, uns die Zügel aus der Hand reißt und uns ins Straucheln kommen lässt. Aber genau das kann auch unser Vorteil sein. Wir kennen es und tief in unserem Innern erwarten wir es auch auf die eine oder andere Weise. Wenn man sich an die alte Weisheit von Reinhold Niebuhr erinnert, „Lieber Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen die ich nicht ändern kann, gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden„, dann wissen wir das er recht hat. Es nützt uns nichts zu trauern, zu neiden oder zu jammern. Unsere Unzufriedenheit wird nur größer und unsere Stimmung nur noch schlechter. Im Inneren wissen wir auch, dass es kaum einen Menschen auf der Erde gibt der nur mit Glück und ganz ohne Schmerzen gesegnet ist. Jeder trägt sein Päckchen auf seine Weise, der eine früher, der andere später. Und schauen wir uns in der Welt um, dann bemerken wir sehr schnell, dass es uns vergleichsweise gut geht. Das kann trösten und die Sorgen relativieren. Meistens klappt das sehr gut. Aber manchmal ist einem auch ein herrlicher Sonntag zu viel. Da ist das sonst so herrliche Vogelgezwitscher plötzlich Geschrei im Kopf und der verständnisvolle Partner versteht die Welt nicht mehr. Nicht umsonst ist die Depressionsrate bei Epilepsiekranken höher als unter der Normalbevölkerung. Oft ist es ein schleichender Prozess. Ein Prozess den wir selbst kaum bemerken. Und doch sollten wir ihn nicht ignorieren. Wir Epilepsiekranken brauchen einfach die Zeit für die Prozesse die in uns ablaufen. Eine Epilepsie ist eben kein gebrochener Arm, der überall Akzeptanz findet. Epilepsie ist auch heute noch Stigma, Tabu, Einschränkung und Unsicherheit. Eine andauernde Riesenbelastung. Eine Belastung, aber gleichzeitig auch eine Chance. Eine Chance für den Mut, Dinge zu ändern, die man ändern kann. Klären wir zuerst uns auf und dann alle anderen und das Tabu wird Risse bekommen. Gleichzeitig wird auch unsere Unsicherheit schwinden und uns selbstbewusster werden lassen (siehe unsere berühmten Vorgänger). Und ganz nebenbei können wir noch Menschen helfen und dadurch neue Verbindungen knüpfen. Doch wir sollten auch nicht vergessen dass es trübe Tage gibt, wo uns alles schwer fällt und zu viel wird. Vielleicht schaffen wir es ganz alleine durch diese Tage, vielleicht brauchen wir aber auch Hilfe. Sei es in Form von guten Gesprächen, durch ein Tagebuch oder ganz klassisch auch in einer längeren Therapie gegen mehr als nur schwarze Tage. Epilepsie ist wie eine Fahrt mit einer Berg- und Talbahn. Mal geht’s hinauf und mal hinab. Und meist entzieht sich diese Fahrt unserer Steuerung. Ein zu langes Hinauf rächt sich bei uns Anfallspatienten manchmal auch durch ein rapides Bergab. Geben wir beiden Strecken nicht zu viel Raum und versuchen wir unser Leben wieder auf eine Gerade zu bringen. Harmonie in uns selbst zu finden und die Höhen und Tiefen anzunehmen. Vielleicht können wir uns dann mehr über die Höhen freuen und die Tiefen in dem Wissen annehmen, dass auch diese wieder vorbei ziehen werden. In diesem Sinne wünsche ich allen eine gute Tagesform Eure Anja
von account 16 Aug., 2021
Fast alle Menschen bekommen bei der Diagnose „Epilepsie“ ein mulmiges Gefühl im Magen und spurlos geht sie an den wenigsten vorbei. Jedoch ist es bemerkenswert, wie unterschiedlich die Folgen dieser Diagnose für den einzelnen Menschen sind. Steht ein Mensch mitten im Berufsleben einer großen Firma, wird die Diagnose oft überraschend gelassen hingenommen, die Arbeitsbedingungen den individuellen Bedürfnissen des Mitarbeiters angepasst und es geht weiter im Berufsalltag. In kleineren Firmen sieht das Ganze oft sehr viel schwieriger aus, da außer Unwissenheit und Vorbehalten gegenüber dieser oft tabuisierten Krankheit, auch die wirtschaftliche Angst des Unternehmers im Vordergrund steht. Oft fällt da ganz schnell der Hammer und man hat als neuer Epilepsiepatient auch noch berufliche und existenzielle Sorgen. Wen wundert es da, dass sich die berufliche Situation auch auf die soziale Integration des Betroffenen auswirkt. Denn wer beruflich abgelehnt wird, verfällt auch oft privat in eine soziale Isolation – nicht selten in eine, durch Unsicherheit, selbst hervorgerufene. Es ist in den meisten Fällen absolut unnötig einen Anfallspatienten zu entlassen, zumal es eigentlich auch nicht erlaubt ist. Aber leider finden sich allzu oft doch Mittel und Wege für den Arbeitgeber. Natürlich gibt es Tätigkeiten, die unter gewissen Anfallsformen nicht ausgeübt werden sollten, jedoch neigen sowohl Arbeitgeber als auch Betroffene oft noch zur Pauschalisierung. Erstere meist aus Unwissenheit oder wegen falscher oder ungenügender Informationen. Glücklicherweise kann man sich heutzutage dahingehend umfassend beraten lassen. Denn, wem schadet es eigentlich, wenn die Sekretärin für einige wenige Sekunden abwesend wirkt, weil sie eine Absence hat? Der Arbeitszeitausfall eines Rauchers ist garantiert höher. Wenn die Friseurin ihren Anfall früh genug spürt, um ihre Handwerksutensilien aus der Hand zu legen und den, häufig nur 2 Minuten andauernden, einfach fokalen Anfall abwartet, wen stört das schon? Denn epileptischer Anfall ist nicht gleich epileptischer Anfall. Diese Beispiele hören sich komisch an? Die meisten Anfälle verlaufen tatsächlich wesentlich unspektakulärer als uns Film und Fernsehen vermitteln. Bei vielen Betroffenen kann der Alltag nach einem Anfall tatsächlich weiter gehen. Gemessen wird im Berufsleben aber anders. Es wird viel zu oft pauschalisiert. Epileptiker fallen krampfend und zuckend zu Boden, haben Schaum vor dem Mund und nässen ein – das ist das Bild, was der Großteil der Bevölkerung vor Augen hat, wenn sie an einen epileptischen Anfall denken. Diese sogenannten Grand Mals oder generalisierten Anfälle sehen zwar sehr beängstigend aus und die Patienten sind nach den durchschnittlichen 2 Minuten Anfallsdauer auch nicht wieder fit, trotzdem sollte man nicht vergessen, dass diese Anfallsform nicht die häufigste ist und auch dann nur gelegentlich auftritt. Bei einigen Patienten nur alle paar Monate oder Jahre und dann auch nur ausnahmsweise auf der Arbeit. Zwischen den Anfällen sind Menschen mit Epilepsie ganz normale, intelligente Menschen und wertvolle Mitarbeiter. Die meisten Betroffenen verschweigen ihre Epilepsie leider wegen der genannten Vorbehalte, was sehr schade, aber nachvollziehbar ist. Wüsste die Öffentlichkeit mehr über Epileptiker wie Edison, Napoleon, Jeanne Darc, Michelangelo, Papst Pius, Alfred Nobel, Da Vinci ec. würden die Vorbehalte gegenüber Betroffenen vielleicht verschwinden. Sie regierten, kämpften, führten, erfanden und erschufen Werke, die die Zeit überdauern. Die Welt wäre ein Stück ärmer, hätte man Michelangelo oder Da Vinci die Aufträge entzogen, nur weil sie gelegentlich Anfälle hatten. Heute ist das oft genauso und ich möchte nicht darüber nachdenken, welche Genies vielleicht an der Umsetzung einer weltverändernden Idee gehindert werden, nur weil man sie für nicht in der Lage dazu sieht. Eine absurde Vorstellung, allerdings ist es leider nicht abwegig. Nach der Veröffentlichung meines ersten Buches rief mich ein Bundestagsabgeordneter an. Er war heimlicher Epilepsiepatient. Dass ein Politiker mein satirisches Buch überhaupt las, verwunderte mich schon sehr. Dass er mich anrief konnte ich kaum glauben. Aber was er mir schilderte, erklärte Einiges. Vor einigen Jahren musste ich einen Zeitungsartikel lesen, der mir schlicht die Zornesröte ins Gesicht trieb. In einer Tageszeitung stand in großen Lettern „Firma stellt Schwerstbehinderten ein“. Schon beim Lesen dieser Zeilen war mir klar, dass es sich bei diesem reißerischen Titel im Endeffekt nicht um eine gute Tat, sondern letztendlich um eine Darstellung handeln würde, die nur auf eins abzielt. Schlagzeile, egal um welchen Preis. Dass die Firma diesen jungen Mann einstellte war ganz wunderbar. Dass der junge Mann nun ein neues Selbstbewusstsein hat, ist schlicht unersetzlich. Dass die Presse diesen jungen Mann aber mit einem Foto darstellte, auf dem er an die Decke sah, als wäre er nicht ganz bei sich, war schon sehr verwunderlich. Dass der junge Mann aber nicht nur mit einem höchst unvorteilhaften Foto, sondern auch noch mit dem Stempel „Schwerstbehinderter“ und „der Epileptiker“ beschrieben wurde, war mir unerträglich. Zum einen, weil es vorgaukelte, dass alle Epileptiker schwerstbehindert sind. Zum zweiten weil die Beschreibung des Artikels zu verstehen gab, dass diese Beschäftigung nur unter größter Rücksichtnahme der Kollegen und Maßnahmen des Betriebes möglich sei. Was war das denn bitte für eine Message? Seither sehe ich ihn häufig bei der Erledigung seiner Arbeit und im Kreise seiner Kollegen und käme nicht im Entferntesten auf die Idee, dass er sich in irgendeiner Form von seinen Kollegen unterscheiden würde. Der damalige Bericht aber, in dieser Form geschrieben, erinnerte bei der Aufklärung über Epilepsie eher an das düstere Mittelalter. Ein Epilepsiepatient ist nicht automatisch schwerstbehindert oder hat gar eine verminderte Intelligenz. Epileptiker sind Juristen, Fußballprofis und Popstars, Bundestagsabgeordnete und Firmeninhaber, Rekordhalter und Erfolgssportler, kreativ, sozial, empathisch, manchmal auch das Gegenteil davon und ganz normale Menschen, denen man weder ansieht noch anmerkt, dass sie eine Krankheit haben. Eine Erkrankung, die nur phasenweise zuschlägt. Bei manchen öfter, bei anderen nur alle paar Jahre einmal. Oder anders ausgedrückt, Epilepsiepatienten sind genauso vielfältig, individuell und besonders wie jeder andere Mensch auch. Bevor wir Menschen Behinderte in eine Schublade stecken, sollten wir bedenken, dass der nächste Epileptiker, der vor uns steht, unser Leben verändern könnte. Sei es durch eine bahnbrechende Erfindung, durch einen Richterspruch, eine gute Tat oder einfach weil es ihn gibt. In diesem Sinne, lasst es Euch gut gehen, Eure Anja
von account 14 Aug., 2021
Schaut und hört man sich im Kreise der Anfallspatienten um, geistert immer wieder ein einziges Wort durch alle Gespräche. Ein Wort, das alleine schon durch seine Existenz Angst zu machen scheint und Unsicherheit auslöst. Eine Buchstabenabfolge die genau das beschreibt, was jeder Epilepsiekranke so sehr fürchtet. Die Anfallsauslöser. Interessant ist die Vielfältigkeit der Anfallsauslöser. Schaut man in medizinischen aktuellen Medien, wird sehr vorsichtig mit dem Wort Anfallsauslöser umgegangen, wogegen manche Epilepsiepatienten immer und überall potentielle Anfallsauslöser lauern sehen. Was ist also dran, an diesen potentiellen Auslösern? Außenstehende fragen sich vielleicht, warum die Menschen eigentlich solche Angst vor den Anfallsauslösern haben? Klar weil sie Anfälle verursachen. Aber verursacht Angst nicht auch Anfälle? Ein Teufelskreis - könnte man meinen. Oftmals haben auch nicht die Anfallskranken selbst solche panische Angst vor den Anfallsauslösern, sondern deren Angehörige. Eine Mutter, die mit Argusaugen jeden Freundestreff misstrauisch beäugt, aus Angst ihr Sprössling könnte in die gefährliche Disco gehen, wird dem Nachwuchs sicherlich keine Selbstsicherheit geben können. Die Ehefrau, die ihrem Mann das Fahrrad fahren ausredet, weil er doch, nach 2 anfallsfreien Jahren, kein Risiko eingehen sollte, klammert höchstens, tut ihrem Mann aber nichts Gutes. Die Oma, die Epilepsie immer noch schamhaft ansieht und ihrem Enkel das Reden über die Krankheit verbietet, erweist ihm sicherlich keinen Gefallen. Im schlimmsten Falle bekommen Betroffene Selbstzweifel und Depressionen. Viele unserer Ängste haben wir nicht Selbst gemacht, sondern sie wurden uns eingeflüstert. Andersrum wird aber auch ein Schuh draus. Vielleicht haben wir selbst auch in anderen unbedarften Menschen Zweifel gesät. Wenn 80% unserer Konversationen mit dem Satz endet „das darf ich nicht“, wäre es ein Wunder, wenn sich das nicht in den Köpfen festsetzen würde. Dabei würde uns vieles, vermeintlich Verbotene, sogar sehr gut tun. Vor einiger Zeit entdeckte ich auf einer Internetseite Ratschläge, die gegen überall lauernde Bedrohungen schützen sollten. Ich denke nicht, dass die Ratgeberin, mit ihrer überbordenden Vorsicht, alleine da steht, vielmehr denke ich, das noch viele Patienten der Meinung sind dass alle möglichen Anfallsauslöser auch ihnen persönlich gefährlich werden könnten, denn zu genau diesen Patienten gehörte auch ich eine gewisse Zeit lang. Was bei meinem Start in die geheimnisvolle Welt der Epilepsie auch kein Wunder war. Es begann 2003 in einer kleinen neurologischen Klinik. Diagnose: komplex fokale Epilepsie. Behandlung: Ein Antiepileptikum, das mich traumwandeln ließ und ein weißer Din A 4 Zettel, der mich tief verunsicherte. Auf diesem unschuldigen Blatt reinweißen Papiers standen Dinge, die mir ab sofort verboten sein sollten. Warum, das verstand ich nicht wirklich. Aber ganz nebenbei würde sich durch diese Verbotsliste, die mich irgendwie stark an die 10 Gebote erinnerten, mein ganzes Leben verändern, denn zufällig machten die meisten dieser verbotenen Dinge meinen Alltag aus. Leitern steigen – dieses Verbot war in meinem damaligen Beruf eher schlecht, denn ohne Leiter konnte ich keine Fenstern dekorieren. Fenster putzen - damit konnte ich sehr gut leben. Kinder bekommen – das stand 2003 tatsächlich noch auf dieser Liste. Heute würde das sicher Niemandem mehr einfallen Auto fahren – das tat wirklich weh. Mit Kindern und ohne Möglichkeit des Nahverkehrs zu meiner Arbeitsstätte hatte ich ab sofort ein Problem. Nicht baden – Puh, ein Weltuntergang war das nicht. Aber begeistert war ich auch nicht. Nicht schwimmen – Ohne Fahrerlaubnis fiel das sowieso flach. Nicht Fahrrad fahren – Das war zufällig mal kein Problem. Dieses waren die aufgeführten Verbote. Was im Anschluss kommen sollte waren die Anfallsauslöser und die machten mir noch sehr viel mehr Angst. Alkohol - Upps, ich war nicht nur überaus gesellig, ich genoss auch meine Weinabende Flackerlicht – Als junge Mutter besucht man Discos eher selten, das sollte kein Problem sein Schlafentzug – Ich würde meinen Terminplaner wohl intensiv überarbeiten müssen Stress – Ich habe zwei Kinder, ging arbeiten, trainierte ein Männerballett, war Stabführerin im Spielmannszug und begleitete meinen Mann auch zum Fußball. Wer hat da schon Stress? Aufregung- Ich habe zwei Kinder und musste zu Elternabenden gehen. Mehr muss ich nicht erwähnen. Videospiele – Sehr schade, ich habe gerne Rätselspiele mit meinem Sohn gespielt. Und andere Reize…. was auch immer damit gemeint war. Vergessen wurde auf diesem reinweißen Blatt das kleine, aber feine Wörtchen „KANN“. Nach der Pauschalliste hörte es sich an, als würden alle oben genannten Dinge für mich gefährlich werden. Vielleicht war es schlicht ein Versäumnis des Erstellers, aber dieses fehlende Wörtchen „kann“ oder „könnte“ veränderte mein Leben für die nächsten zwei Jahre komplett, denn ich war eine vorbildliche Patientin!!! Im anfangs erwähnten Ratgeberforum, las ich, gut 15 Jahre später, dass Ausdauersport auch sehr gefährlich sei. Wenn ich nicht schon so aufgeklärt gewesen wäre, wie ich es heute bin, hätte mich spätestens nach diesem Rat die Skepsis gepackt. Wenn Ausdauersport also schädlich für Epilepsiepatienten sein soll – was, so pauschal ausgesprochen, natürlich absoluter Blödsinn ist, was ist dann mit dem Langstreckenläufer Georg Thoma, für den ein Marathon eher eine Kurzstrecke darstellt? Was ist mit Jerome Becher, der Marathon läuft und einen Rekord mit 24h Dauerschwimmen aufstellte. Was ist mit den anderen Sportlern mit Epilepsie? Es mag durchaus sein, dass nicht jeder Epilepsiepatient Ausdauersport verträgt, aber bei der überwiegenden Zahl der Patienten wirkt Sport sogar entlastend, sie beschreiben sich nach dem Sport als befreit und selbstsicherer. Mal ganz abgesehen von den anderen körperlichen Vorteilen. Ich nehme an, dass man mittlerweile keine Pauschalverbote mehr ausspricht. Ich möchte aber trotzdem darauf hinweisen, dass Verbote stets auf die eigene Anfallsart und das eigene Leben abgestimmt sein sollten. Selbstverständlich kann ich persönlich, dank Aura, Leitern steigen und Fenster putzen. Es muss ja nicht gerade in 3 Metern Höhe sein. Flackerlicht betrifft nur ganz wenige Epilepsiepatienten, zu denen ich ausnahmsweise auch gehöre. Aber ein oder zwei Gläschen Wein machen mir dagegen nichts aus. Eine Erkenntnis, die ich im Übrigen einem sehr renommierten Professor für Epilepsie zu verdanken habe. Wie überraschend sich das Thema Anfallsauslöser entwickeln kann, sieht man auch sehr deutlich an folgenden Beispielen. Ich war zur Gründungsfeier einer Epilepsiestiftung eingeladen. Meine Aufgabe bestand darin, Bilder auszustellen, zu malen und das entstandene Bild zu stiften. Mein Mann und ich mussten noch einige Vorbereitungen vor Ort treffen und so waren wir schon lange vor Beginn der Veranstaltung dort. Gleichzeitig baute die Musikkapelle ihr Equipment auf und stimmte die Instrumente. Alles war gar kein Problem für mich, bis man ein Streichinstrument einstimmte. Der Ton bohrte sich in meinen Kopf und um meinen Hinterkopfbereich fühlte es sich an, als würde mich ein eiserner Ring umklammern. Ich konnte es einfach nicht aushalten und ging hinaus, um mich abzulenken. Selbst als ich im Flur stand und den Ton nur noch gedämpft hörte, war er unerträglich präsent. Ging ich ein paar Meter weiter, aus der Akustikzone heraus, wurde es besser. Das war tatsächlich eine Überraschung für mich, denn ich hätte niemals gedacht, dass eine bestimmte Frequenz, bzw. eine schnelle Tonfolge bei mir Anfallsauslösend wirken könnte. Zumal ich es als Flötistin gewohnt war relativ hohe Töne zu spielen. … Zwei Tage später half ich meiner Schwiegermutter auf ihrem 70. Geburtstag bei der Bewirtung der sehr fröhlichen Gäste. Obwohl mir genau diese Tätigkeiten richtig viel Freude bereiten, schwirrte mir nach guten drei Stunden der Kopf, ich verwechselte Worte, zitterte und musste mich hinsetzen. Nach einer kurzen Pause machte ich weiter und geriet an einen Mann, der mir intensiv seine Geschichte erzählte. Inhaltlich ging ein Großteil nicht mehr in meinen Verstand, aber der eiserne Ring um meinen Hinterkopf kam zurück und ich hatte das Gefühl umzukippen. Mir war klar, dass ich ganz schnell Ruhe brauchte und so fuhren wir nach Hause. Es war mir regelrecht peinlich, jedoch fand sich in diesem Moment keine andere Lösung. Der kühle Fahrtwind, der durchs Fenster auf meine Stirn blies, ließ die Spannung etwas abflauen, aber ich hätte mit Sicherheit keine 5 Minuten mehr ohne Folgen überstanden. Das war ein herber Rückschlag für mich, denn ich wollte so gerne wieder arbeiten gehen. Doch spätestens an diesem Tag musste ich mich nun fragen, was genau denn nun meine persönlichen Anfallsauslöser überhaupt sind? Was kann ich tun, was kann ich nicht tun? Viele Leute machen mir normalerweise gar nichts aus. Hatten sich meine Anfallsauslöser geändert oder war einfach alles etwas zu viel für mich? Vielleicht war es auch gar nicht epileptisch, sondern psychisch? Dabei habe ich mich in einigen Dingen niemals meiner Epilepsie gebeugt. Ich trainierte, zu diesem Zeitpunkt, bereits seit 16 Jahren mein Männerballett, ging in der Bütt genauso gerne auf die Bühne wie als Epilepsie-Patientenbotschafterin und kickte auch ein bisschen in der Damenfußballmannschaft. Das Risiko, in der Öffentlichkeit einen Anfall zu bekommen, habe ich also immer relativ gelassen getragen. Fragen über Fragen, die man eben nicht mit einem pauschalen weißen Blatt Papier beantworten kann. Hier galt es nun herauszufinden warum ich plötzlich wieder so empfindlich war. Ein Tagebuch half mir und meinem Arzt dies herauszufinden. Dort hielt ich meine jeweiligen Tagesabläufe, meine Stimmungen, Gefühle u.s.w. fest und analysierte sie. Nur so konnte ich mich und meine Epilepsie richtig kennenlernen und mein Leben so normal, wie es mir möglich war, weiter leben. Ich hatte das zwar alles schon hinter mir, aber es schien sich etwas geändert zu haben. So mühsam sich das auch alles anhören mag, ist es trotzdem besser als allen potentiellen Anfallsauslösern aus dem Weg zu gehen. Patienten die sich, nur von Angst geleitet, allem entsagen, beschneiden sich und ihr Leben um ein großes Stück Lebensqualität und Freude. Natürlich gibt es die Anfallsauslöser, aber nicht Jeder hat dieselben. Wir sind individuell und das ist auch gut so. Mein Rat: Vergesst nicht zu leben, habt Spaß und investiert etwas Zeit in die Suche Eurer persönlichen Quälgeister. Die könnt Ihr dann verbannen, aber mit allem anderen könnt Ihr vielleicht auch richtig viel Spaß haben. Eure Anja Hier noch ein paar interessante und lesenswerte Links dazu: http://www.epikurier.de/Ist-Stress-schaedlic.849.0.html (Epilepsie und Stress) http://www.epilepsie-selbst-kontrollieren.de/html.html (sehr interessante Seite) http://www.epilepsie.sh/Anfallsselbstkontrolle.325.0.html http://www.swissepi.ch/web/swe.nsf/swehomepage_followup?OpenPage
von Sebastian Angermeyer 14 Aug., 2021
Bekommt man seinen ersten Krampfanfall stellt sich die Frage nach Herkunft und Auslöser dieses erschreckenden Ereignisses. Manchmal beginnt eine lange Odyssee der Suche und Symptomeingrenzungen, in anderen Fällen probiert man sofort Antiepileptika und schaut, ob sie Linderung verschaffen. Helfen die Antiepileptika, kann man von einem epileptischen Geschehen ausgehen, bleibt die Wirkung aus, liegt entweder ein falsches Medikament oder die falsche Ursache vor. So erklärte man es mir vor 2003. Ganz so einfach, wie sich das alles anhört, ist es natürlich nicht, denn jeder Mensch reagiert verschieden auf die unterschiedlichsten Wirkstoffe und auch die Psyche spielt bei Krampfanfällen keine ganz untergeordnete Rolle. Viele Patienten beschweren sich, dass sie sich als Versuchskaninchen behandelt fühlen, jedoch sollte man bedenken, dass der eine oder andere „Versuch“ auf jeden Fall die bessere Alternative ist, statt sich mit einer falschen Diagnose und/oder vielleicht jahrelang mit den falschen Medikamenten herumzuschlagen. Denn so seltsam das klingen mag, wenn epileptische Anfälle auch von hirnorganischem Ursprung und dissoziative/psychogene Anfälle von bisher geglaubter psychischer Herkunft sind (neue medizinische Forschungsansätze finden sich in untenstehendem Video), ist es nicht einfach die beiden Anfallsarten voneinander zu unterscheiden. Im medizinischen Sinne ist dies jedoch zwingend notwendig, da die Behandlungen ganz unterschiedlich ansetzen. Wenn wiederholt ambulante Untersuchungen nichts ergeben haben und parallel dazu verschiedene epileptische Therapieversuche nicht anschlagen, sollte der Patient auf eine Überweisung in eine spezialisierte Epilepsieambulanz oder zu einem Monitoring bestehen. Bei letzterem wird während einer dauerhaften EEG Ableitung eine Videoaufzeichnung gemacht. Oft auch unter Schlafentzug oder einer Anfallsprovokation. Lässt sich hierbei ein Anfall beobachten, kann der geschulte Fachmann anhand einiger Merkmale die Herkunft des Anfalls bestimmen und damit die Therapie optimieren oder sogar komplett umstellen. Manchmal entpuppen sich epileptische Anfälle als dissoziative, nicht-epileptische Anfälle oder umgekehrt. Auch beide Arten der Anfälle können Patienten treffen. Um die für sich optimale Behandlung zu bekommen, braucht der Arzt gute Informationen, die Anfälle betreffend. Dass das nicht so einfach ist, kenne ich von meinen Anfällen nur zu gut. Am nützlichsten ist dahingehend ein sorgfältig geführter Anfallskalender, besser noch ein Tagebuch. Oftmals lassen sich Parallelen, die den Anfällen vorausgegangen sind, erkennen und damit die Zuordnung und folgende Behandlungsstrategie erleichtern. Was medizinisch zwar schwierig, aber unerlässlich ist, könnte im sozialen und privaten Kontext beinahe komplett außer Acht gelassen werden, denn die Patienten kämpfen mit denselben Problemen, egal welche Anfälle sie haben. Doch gerade hier ist genau das Gegenteil der Fall. An Punkten, wo die Patienten zusammenhalten und sich gegenseitiges Verständnis geben könnten, fangen oft die Distanzierungen an. Mitunter sind es genau die Menschen, die sich über die Ausgrenzung wegen ihrer Epilepsie beschweren, die Personen, die sich jetzt von ihren "Kollegen" mit dissoziativen Anfällen abwenden. Gibt es also „bessere“ oder „echtere“ Anfallspatienten? In meinen Augen nicht. Menschen mit dissoziativen Anfällen haben oft zusätzlich eine Epilepsie, oder beispielsweise ein furchtbares Trauma, das die Anfälle ausgelöst hat. Neue Untersuchungsergebnisse zeigen auch einen Zusammenhang mit der Atmung und weiteren auslösenden Faktoren (siehe untenstehendes Video von Dr. Weiss). Sie haben also keine Wahnvorstellungen und sind auch nicht „verrückt.“ Man kann die Anfälle auch nicht gegeneinander aufrechnen, welche schlimmer oder besser sind. Das sind rein subjektive Empfindungen. Dissoziative oder psychogene Anfälle sind so wenig beeinflussbar wie durch Aufregung ausgelöste Herz-, Kopf- oder Magenschmerzen oder das umgangssprachliche „rot werden“ wenn man sich schämt. Wenn Patient A eine Gastritis wegen Stress bekommt, denken die meisten Menschen an Überarbeitung und Stress. Wenn Patient B aber einen diss. Anfall wegen derselben Ursache bekommt, wird er im schlechtesten Fall als verrückt abgestempelt. Mitunter sogar von anderen Anfallskranken oder Ärzten. Die Gründe kann ich nicht ganz nachvollziehen, sind sie nicht nur absolut kontraproduktiv, sondern auch ungerecht und diskriminierend. Was dies mit solchen Patienten machen kann, habe ich selbst mitansehen müssen. Depressionen und suizidale Gedanken machen sich häufig unbemerkt breit und schnell kann es zu spät sein! So wie in unserem Fall. Deswegen ist ein empathischer Umgang mit Betroffenen so immens wichtig. Mittlerweile haben immer mehr Epilepsiekliniken dieses Defizit erkannt und behandeln ihre Patienten mit dissoziativen Anfällen genauso verständnisvoll wie ihre Patienten mit epileptischen Anfällen. Das ist ein guter Weg und ich hoffe, dass er Schule machen wird. Der soziale Umgang ist damit allerdings noch immer nicht verbessert. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass mein gesamtes Umfeld meine epileptischen und dissoziativen Anfälle sehr gut aufgenommen hat und mich niemals ausgrenzte, obwohl ich zeitweise mehrere Anfälle am Tag hatte. Bei Epilepsiepatienten war ich auch immer sehr beliebt, solange man nur von meinen epileptischen Anfällen wusste. Als man mir später zusätzlich diss. Anfälle diagnostizierte, rümpften einige Mitbetroffene die Nase oder zeigten mir ganz klar, dass sie mich für „nicht ganz dicht“ hielten. Mir machte das meist nichts aus, da ich einen guten Arzt hatte, der mir den medizinischen Hintergrund gut erläuterte. Doch nicht Jeder hat dieses Glück und so manches mal zweifelte ich dann doch an mir. Dieses neue Video rückt so manches gerade und ich sehe ganz neue Ansätze, die wirklich Mut machen. Für den Außenstehenden ist der Unterschied nur mit sehr viel Erfahrung und Wissen erkennbar, für den Patienten meist nur an der Länge des Anfalles oder an Situations-Parallelen vor den Anfällen unterscheidbar. Für den Arzt ist die genaue Zuordnung immer wieder eine Herausforderung. Warum also diese Abgrenzungen? Ich würde es schön finden, wenn alle Anfallspatienten zusammenarbeiten und an einem Strang ziehen würden. Gerade weil ihre Herausforderungen sich so immens ähneln, könnten sie sich sehr gut gegenseitig unterstützen. Wenn "eingefahrene" Ärzte eventuell die Sichtweise ihrer andersdenkenden Kollegen in Betracht zögen und die Patienten einfühlsamer behandelten, könnten offene Fragen vielleicht schneller beantwortet und Geheimnisse eher gelüftet werden. Egal von welcher Seite ich es auch betrachte - ein Miteinander kann nur ein Gewinn sein. In diesem Sinne wünsche ich allen eine anfallsfreie Zeit, egal welcher Art ihre Anfälle auch sein mögen. Eure Anja Hier geht es zu dem interessanten Beitrag über nicht-epileptische Anfälle https://www.weiss.de/dissoziative-stoerungen.html Weitere Informationen findet man, unter anderem, hier https://www.kleinwachau.de/fachklinik/psychosomatische-epileptologie https://www.epilepsie-vereinigung.de/krankheitsbild/dissoziative-nicht-epileptische-anfaelle/ Solltet Ihr Depressionen und Suizidgedanken haben, wendet Euch bitte unbedingt an folgende Nummern. Notrufnummern bei Depressionen und Suizidgedanken Deutschland Tel.: 0800 / 11 10 111 Tel.: 0800 / 11 10 222 Österreich Tel.: 142 Schweiz Tel.: 143
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