Fast alle Menschen bekommen bei der Diagnose „Epilepsie“ ein mulmiges Gefühl im Magen und spurlos geht sie an den wenigsten vorbei. Jedoch ist es bemerkenswert, wie unterschiedlich die Folgen dieser Diagnose für den einzelnen Menschen sind.
Steht ein Mensch mitten im Berufsleben einer großen Firma, wird die Diagnose oft überraschend gelassen hingenommen, die Arbeitsbedingungen den individuellen Bedürfnissen des Mitarbeiters angepasst und es geht weiter im Berufsalltag. In kleineren Firmen sieht das Ganze oft sehr viel schwieriger aus, da außer Unwissenheit und Vorbehalten gegenüber dieser oft tabuisierten Krankheit, auch die wirtschaftliche Angst des Unternehmers im Vordergrund steht. Oft fällt da ganz schnell der Hammer und man hat als neuer Epilepsiepatient auch noch berufliche und existenzielle Sorgen.
Wen wundert es da, dass sich die berufliche Situation auch auf die soziale Integration des Betroffenen auswirkt. Denn wer beruflich abgelehnt wird, verfällt auch oft privat in eine soziale Isolation – nicht selten in eine, durch Unsicherheit, selbst hervorgerufene.
Es ist in den meisten Fällen absolut unnötig einen Anfallspatienten zu entlassen, zumal es eigentlich auch nicht erlaubt ist. Aber leider finden sich allzu oft doch Mittel und Wege für den Arbeitgeber. Natürlich gibt es Tätigkeiten, die unter gewissen Anfallsformen nicht ausgeübt werden sollten, jedoch neigen sowohl Arbeitgeber als auch Betroffene oft noch zur Pauschalisierung. Erstere meist aus Unwissenheit oder wegen falscher oder ungenügender Informationen. Glücklicherweise kann man sich heutzutage dahingehend umfassend beraten lassen.
Denn, wem schadet es eigentlich, wenn die Sekretärin für einige wenige Sekunden abwesend wirkt, weil sie eine Absence hat? Der Arbeitszeitausfall eines Rauchers ist garantiert höher. Wenn die Friseurin ihren Anfall früh genug spürt, um ihre Handwerksutensilien aus der Hand zu legen und den, häufig nur 2 Minuten andauernden, einfach fokalen Anfall abwartet, wen stört das schon? Denn epileptischer Anfall ist nicht gleich epileptischer Anfall. Diese Beispiele hören sich komisch an?
Die meisten Anfälle verlaufen tatsächlich wesentlich unspektakulärer als uns Film und Fernsehen vermitteln. Bei vielen Betroffenen kann der Alltag nach einem Anfall tatsächlich weiter gehen.
Gemessen wird im Berufsleben aber anders. Es wird viel zu oft pauschalisiert. Epileptiker fallen krampfend und zuckend zu Boden, haben Schaum vor dem Mund und nässen ein – das ist das Bild, was der Großteil der Bevölkerung vor Augen hat, wenn sie an einen epileptischen Anfall denken. Diese sogenannten Grand Mals oder generalisierten Anfälle sehen zwar sehr beängstigend aus und die Patienten sind nach den durchschnittlichen 2 Minuten Anfallsdauer auch nicht wieder fit, trotzdem sollte man nicht vergessen, dass diese Anfallsform nicht die häufigste ist und auch dann nur gelegentlich auftritt. Bei einigen Patienten nur alle paar Monate oder Jahre und dann auch nur ausnahmsweise auf der Arbeit. Zwischen den Anfällen sind Menschen mit Epilepsie ganz normale, intelligente Menschen und wertvolle Mitarbeiter. Die meisten Betroffenen verschweigen ihre Epilepsie leider wegen der genannten Vorbehalte, was sehr schade, aber nachvollziehbar ist.
Wüsste die Öffentlichkeit mehr über Epileptiker wie Edison, Napoleon, Jeanne Darc, Michelangelo, Papst Pius, Alfred Nobel, Da Vinci ec. würden die Vorbehalte gegenüber Betroffenen vielleicht verschwinden. Sie regierten, kämpften, führten, erfanden und erschufen Werke, die die Zeit überdauern. Die Welt wäre ein Stück ärmer, hätte man Michelangelo oder Da Vinci die Aufträge entzogen, nur weil sie gelegentlich Anfälle hatten.
Heute ist das oft genauso und ich möchte nicht darüber nachdenken, welche Genies vielleicht an der Umsetzung einer weltverändernden Idee gehindert werden, nur weil man sie für nicht in der Lage dazu sieht.
Eine absurde Vorstellung, allerdings ist es leider nicht abwegig. Nach der Veröffentlichung meines ersten Buches rief mich ein Bundestagsabgeordneter an. Er war heimlicher Epilepsiepatient. Dass ein Politiker mein satirisches Buch überhaupt las, verwunderte mich schon sehr. Dass er mich anrief konnte ich kaum glauben. Aber was er mir schilderte, erklärte Einiges.
Vor einigen Jahren musste ich einen Zeitungsartikel lesen, der mir schlicht die Zornesröte ins Gesicht trieb. In einer Tageszeitung stand in großen Lettern „Firma stellt Schwerstbehinderten ein“. Schon beim Lesen dieser Zeilen war mir klar, dass es sich bei diesem reißerischen Titel im Endeffekt nicht um eine gute Tat, sondern letztendlich um eine Darstellung handeln würde, die nur auf eins abzielt. Schlagzeile, egal um welchen Preis. Dass die Firma diesen jungen Mann einstellte war ganz wunderbar. Dass der junge Mann nun ein neues Selbstbewusstsein hat, ist schlicht unersetzlich. Dass die Presse diesen jungen Mann aber mit einem Foto darstellte, auf dem er an die Decke sah, als wäre er nicht ganz bei sich, war schon sehr verwunderlich. Dass der junge Mann aber nicht nur mit einem höchst unvorteilhaften Foto, sondern auch noch mit dem Stempel „Schwerstbehinderter“ und „der Epileptiker“ beschrieben wurde, war mir unerträglich.
Zum einen, weil es vorgaukelte, dass alle Epileptiker schwerstbehindert sind. Zum zweiten weil die Beschreibung des Artikels zu verstehen gab, dass diese Beschäftigung nur unter größter Rücksichtnahme der Kollegen und Maßnahmen des Betriebes möglich sei. Was war das denn bitte für eine Message?
Seither sehe ich ihn häufig bei der Erledigung seiner Arbeit und im Kreise seiner Kollegen und käme nicht im Entferntesten auf die Idee, dass er sich in irgendeiner Form von seinen Kollegen unterscheiden würde. Der damalige Bericht aber, in dieser Form geschrieben, erinnerte bei der Aufklärung über Epilepsie eher an das düstere Mittelalter.
Ein Epilepsiepatient ist nicht automatisch schwerstbehindert oder hat gar eine verminderte Intelligenz. Epileptiker sind Juristen, Fußballprofis und Popstars, Bundestagsabgeordnete und Firmeninhaber, Rekordhalter und Erfolgssportler, kreativ, sozial, empathisch, manchmal auch das Gegenteil davon und ganz normale Menschen, denen man weder ansieht noch anmerkt, dass sie eine Krankheit haben. Eine Erkrankung, die nur phasenweise zuschlägt. Bei manchen öfter, bei anderen nur alle paar Jahre einmal.
Oder anders ausgedrückt, Epilepsiepatienten sind genauso vielfältig, individuell und besonders wie jeder andere Mensch auch.
Bevor wir Menschen Behinderte in eine Schublade stecken, sollten wir bedenken, dass der nächste Epileptiker, der vor uns steht, unser Leben verändern könnte. Sei es durch eine bahnbrechende Erfindung, durch einen Richterspruch, eine gute Tat oder einfach weil es ihn gibt.
In diesem Sinne, lasst es Euch gut gehen,
Eure Anja