Bekommt man seinen ersten Krampfanfall stellt sich die Frage nach Herkunft und Auslöser dieses erschreckenden Ereignisses. Manchmal beginnt eine lange Odyssee der Suche und Symptomeingrenzungen, in anderen Fällen probiert man sofort Antiepileptika und schaut, ob sie Linderung verschaffen.
Helfen die Antiepileptika, kann man von einem epileptischen Geschehen ausgehen, bleibt die Wirkung aus, liegt entweder ein falsches Medikament oder die falsche Ursache vor. So erklärte man es mir vor 2003.
Ganz so einfach, wie sich das alles anhört, ist es natürlich nicht, denn jeder Mensch reagiert verschieden auf die unterschiedlichsten Wirkstoffe und auch die Psyche spielt bei Krampfanfällen keine ganz untergeordnete Rolle.
Viele Patienten beschweren sich, dass sie sich als Versuchskaninchen behandelt fühlen, jedoch sollte man bedenken, dass der eine oder andere „Versuch“ auf jeden Fall die bessere Alternative ist, statt sich mit einer falschen Diagnose und/oder vielleicht jahrelang mit den falschen Medikamenten herumzuschlagen.
Denn so seltsam das klingen mag, wenn epileptische Anfälle auch von hirnorganischem Ursprung und dissoziative/psychogene Anfälle von bisher geglaubter psychischer Herkunft sind (neue medizinische Forschungsansätze finden sich in untenstehendem Video), ist es nicht einfach die beiden Anfallsarten voneinander zu unterscheiden.
Im medizinischen Sinne ist dies jedoch zwingend notwendig, da die Behandlungen ganz unterschiedlich ansetzen.
Wenn wiederholt ambulante Untersuchungen nichts ergeben haben und parallel dazu verschiedene epileptische Therapieversuche nicht anschlagen, sollte der Patient auf eine Überweisung in eine spezialisierte Epilepsieambulanz oder zu einem Monitoring bestehen.
Bei letzterem wird während einer dauerhaften EEG Ableitung eine Videoaufzeichnung gemacht. Oft auch unter Schlafentzug oder einer Anfallsprovokation.
Lässt sich hierbei ein Anfall beobachten, kann der geschulte Fachmann anhand einiger Merkmale die Herkunft des Anfalls bestimmen und damit die Therapie optimieren oder sogar komplett umstellen. Manchmal entpuppen sich epileptische Anfälle als dissoziative, nicht-epileptische Anfälle oder umgekehrt. Auch beide Arten der Anfälle können Patienten treffen.
Um die für sich optimale Behandlung zu bekommen, braucht der Arzt gute Informationen, die Anfälle betreffend. Dass das nicht so einfach ist, kenne ich von meinen Anfällen nur zu gut. Am nützlichsten ist dahingehend ein sorgfältig geführter Anfallskalender, besser noch ein Tagebuch. Oftmals lassen sich Parallelen, die den Anfällen vorausgegangen sind, erkennen und damit die Zuordnung und folgende Behandlungsstrategie erleichtern.
Was medizinisch zwar schwierig, aber unerlässlich ist, könnte im sozialen und privaten Kontext beinahe komplett außer Acht gelassen werden, denn die Patienten kämpfen mit denselben Problemen, egal welche Anfälle sie haben.
Doch gerade hier ist genau das Gegenteil der Fall. An Punkten, wo die Patienten zusammenhalten und sich gegenseitiges Verständnis geben könnten, fangen oft die Distanzierungen an.
Mitunter sind es genau die Menschen, die sich über die Ausgrenzung wegen ihrer Epilepsie beschweren, die Personen, die sich jetzt von ihren "Kollegen" mit dissoziativen Anfällen abwenden. Gibt es also „bessere“ oder „echtere“ Anfallspatienten? In meinen Augen nicht.
Menschen mit dissoziativen Anfällen haben oft zusätzlich eine Epilepsie, oder beispielsweise ein furchtbares Trauma, das die Anfälle ausgelöst hat. Neue Untersuchungsergebnisse zeigen auch einen Zusammenhang mit der Atmung und weiteren auslösenden Faktoren (siehe untenstehendes Video von Dr. Weiss). Sie haben also keine Wahnvorstellungen und sind auch nicht „verrückt.“
Man kann die Anfälle auch nicht gegeneinander aufrechnen, welche schlimmer oder besser sind. Das sind rein subjektive Empfindungen.
Dissoziative oder psychogene Anfälle sind so wenig beeinflussbar wie durch Aufregung ausgelöste Herz-, Kopf- oder Magenschmerzen oder das umgangssprachliche „rot werden“ wenn man sich schämt.
Wenn Patient A eine Gastritis wegen Stress bekommt, denken die meisten Menschen an Überarbeitung und Stress. Wenn Patient B aber einen diss. Anfall wegen derselben Ursache bekommt, wird er im schlechtesten Fall als verrückt abgestempelt. Mitunter sogar von anderen Anfallskranken oder Ärzten. Die Gründe kann ich nicht ganz nachvollziehen, sind sie nicht nur absolut kontraproduktiv, sondern auch ungerecht und diskriminierend. Was dies mit solchen Patienten machen kann, habe ich selbst mitansehen müssen. Depressionen und suizidale Gedanken machen sich häufig unbemerkt breit und schnell kann es zu spät sein! So wie in unserem Fall. Deswegen ist ein empathischer Umgang mit Betroffenen so immens wichtig.
Mittlerweile haben immer mehr Epilepsiekliniken dieses Defizit erkannt und behandeln ihre Patienten mit dissoziativen Anfällen genauso verständnisvoll wie ihre Patienten mit epileptischen Anfällen. Das ist ein guter Weg und ich hoffe, dass er Schule machen wird.
Der soziale Umgang ist damit allerdings noch immer nicht verbessert. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass mein gesamtes Umfeld meine epileptischen und dissoziativen Anfälle sehr gut aufgenommen hat und mich niemals ausgrenzte, obwohl ich zeitweise mehrere Anfälle am Tag hatte.
Bei Epilepsiepatienten war ich auch immer sehr beliebt, solange man nur von meinen epileptischen Anfällen wusste. Als man mir später zusätzlich diss. Anfälle diagnostizierte, rümpften einige Mitbetroffene die Nase oder zeigten mir ganz klar, dass sie mich für „nicht ganz dicht“ hielten. Mir machte das meist nichts aus, da ich einen guten Arzt hatte, der mir den medizinischen Hintergrund gut erläuterte. Doch nicht Jeder hat dieses Glück und so manches mal zweifelte ich dann doch an mir. Dieses neue Video rückt so manches gerade und ich sehe ganz neue Ansätze, die wirklich Mut machen.
Für den Außenstehenden ist der Unterschied nur mit sehr viel Erfahrung und Wissen erkennbar, für den Patienten meist nur an der Länge des Anfalles oder an Situations-Parallelen vor den Anfällen unterscheidbar. Für den Arzt ist die genaue Zuordnung immer wieder eine Herausforderung. Warum also diese Abgrenzungen?
Ich würde es schön finden, wenn alle Anfallspatienten zusammenarbeiten und an einem Strang ziehen würden. Gerade weil ihre Herausforderungen sich so immens ähneln, könnten sie sich sehr gut gegenseitig unterstützen. Wenn "eingefahrene" Ärzte eventuell die Sichtweise ihrer andersdenkenden Kollegen in Betracht zögen und die Patienten einfühlsamer behandelten, könnten offene Fragen vielleicht schneller beantwortet und Geheimnisse eher gelüftet werden. Egal von welcher Seite ich es auch betrachte - ein Miteinander kann nur ein Gewinn sein.
In diesem Sinne wünsche ich allen eine anfallsfreie Zeit, egal welcher Art ihre Anfälle auch sein mögen.
Eure Anja
Hier geht es zu dem interessanten Beitrag über nicht-epileptische Anfälle
Weitere Informationen findet man, unter anderem, hier
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